Eine magische Zeit
Was gab Rick Rubin die Idee, daß er Johnny Cash produzieren könnte, ja sollte? „Ich überlegte, welcher Künstler ist wirklich groß, macht aber gerade nicht wirklich große Musik. Welcher große Künstler ist gerade nicht auf dem richtig großen Platz? Und da kam mir als der Größte Johnny Cash in den Sinn. Ich kannte Musik von ihm, mochte es aber heftiger.“
Rubin hatte sein erfolgreiches Label „American Recordings“ mit Hip Hop, Hard Rock, Heavy Metal aufgebaut. The Beastie Boys, the Red Hot Chillie Peppers waren Gruppen, die er aufnahm. Rubin war damals gerade 30, Johnny Cash war 61. „Zwischen uns lagen Welten.“
Die gemeinsame Arbeit begann 1993 in Los Angeles in Rubins Haus. „Wir begannen in Ricks Wohnzimmer. Da waren nur zwei Mikrophone, eins für mich uns eins für meine Gitarre. Es gab keine Studiouhr, keine Soundexperten, keine Umfrage-Schlaumeier. Da waren nur wir beide.“
„Rick sagte, singen Sie die Songs, die Sie lieben. Singen Sie mir gerade die, von denen Sie wünschen, daß ich sie aufnehme. Ich saß auf einem Stuhl und begleitete mich auf meiner Gitarre. Ich sang und fühlte mich so wohl dabei. Ich spielte ohne Plektrum. Jeder Gitarrenton kam von meinem Daumen. Ich sang, was mir in den Sinn kam. Manche Songs waren teuflisch, andere düster und traurig. Manchmal lag Rick auf dem Wohnzimmerteppich, mit seinen Hunden. Es schien, als schliefe er. Aber er hörte jeden Ton.“ – „Singen Sie mehr, ich möchte alles hören, was Sie kennen.“
Neun Monate arbeiteten Sie so zusammen, bis sie das erste gemeinsame Album herausgaben. Es war eine Zeit des Zusammenfindens (kind of meeting each other). „Ein großes Vertrauen wuchs zwischen uns. Jeder wußte, der andere ist ehrlich.“ Rubin sagte: „Als Produzent habe ich mich darauf konzentriert herauszufinden, was so einmalig an John ist, und das herauszuarbeiten. Welche Songs könnte er singen, aber James Taylor nicht? Und warum ist das so? Ich lernte seine Welt kennen.“
Es war die Dunkelheit, die Untiefe, die Rubin in Johnny Cash sah. Cash erinnert sich: „Es war eine magische Zeit, all diese Sitzungen in Ricks Haus waren eine wirklich magische Zeit. Ich fühlte, daß wir etwas sehr, sehr Gutes machten, etwas, daß ich immer aufnehmen wollte: meine Gitarre spielen und einen einfachen Song singen. All meine früheren Produzenten hatten ein solches Album abgelehnt. Rick hat gesagt, wir werden Leute finden, denen das gefällt, und die das kaufen möchten. Rick glaubte an mich und meine Zukunft. – In diesen ersten Monaten unserer Zusammenarbeit habe ich mich neu entdeckt und das, was mich musikalisch reizt und was ich wirklich mag. Es war eine großartige Reise nach innen. Rick saß dabei, weniger als Produzent, eher als Freund, und er teilte diese Songs mit mir. Was hast Du sonst noch, sagte er, oder, hör Dir den an, und dann spielte er mir einen vor. Er hat mit mir Akkorde gelernt. Die Akkorde, die ich spielen wollte, aber nicht konnte, haben wir gemeinsam gelernt.“
Hundert Songs haben sie für das erste Album aufgenommen. Rubin wunderte sich über die Arbeitsweise, die Cash sich angewöhnt hatte. „Er weiß, wie man arbeitet, und ob er das weiß. Aber zwischen Wissen und Tun ist ein Unterschied.“ Als Cash gesehen hatte, daß Nashville sich nicht mehr für ihn interessierte und er seine Plattenkarriere für beendet hielt, hatte er die Dinge laufen lassen. Die jungen Künstler, mit denen Rubin zusammenarbeitete, machten ihr erstes oder ihr zweites Album. Sie waren mit Begeisterung bei der Arbeit. Cash dagegen hatte wohl zweihundert Alben besungen. Ein Album zu machen, war für ihn nichts Besonderes; es war eben nur ein anderes Album. Aber darüber, sagte Rubin, habe er damals mit Cash nicht gesprochen. Er versuchte, die Lust an neuer Arbeit wieder in ihm zu wecken. „Wir machen nicht ein anderes Album, wir machen das beste, das wir je gemacht haben.“ Und Rubin schob die Grenze für ein gutes Arbeiten langsam weiter vor.
Rick Rubin nahm sich Zeit, hörte zu, dachte nach. Sie experimentierten mit verschiedenen Instrumenten, kehrten aber zu der anfänglichen Idee zurück: Cash allein mit Gitarre. Zwei Songs für das erste Album wurden live in einem Club in Los Angeles aufgenommen. Rubin hatte die Idee. „Wir gucken, wie den Leuten die Musik gefällt.“ Sie setzten ein Konzert im „Viper Room“ an. „John war fürchterlich aufgeregt. Zweihundert Konzerte hat er im Jahr gegeben, aber er hat nie allein auf der Bühne gestanden. Ich konnte sehen, wie unsicher er beim ersten Song war. Sein Selbstbewußtsein war nicht sehr groß. Aber beim zweiten Song war er dann richtig in der Musik drin. Er war großartig! Die Leute sprachen in dieser Nacht davon, daß es das größte gewesen sei, was sie je gesehen hätten.“ Keith Richards, Gitarrist der Rolling Stones, schwärmte: „Es war eine von jenen großen Nächten, wo du weißt, du bist glücklich am richtigen Ort zur richtigen Zeit am Ende der Dinge.“ Die Sängerin Emmylou Harris, die unter den Gästen saß, schrieb im Rolling Stone: „Ich glaube, daß man das Wort `Charisma` erfunden hat, um zu beschreiben, was Johnny Cash hat. Er strahlt eine Würde aus in jeder Bewegung, in jedem Wort, daß er spricht.“ – Für das erste Album wählten sie dreizehn Songs aus. Das Album bekam den Titel von Rubins Label: „American Recordings“. Der Produzent teilte mit: „Whatever I´ve got to offer as an artist, it´s here."
Der erste Song auf dem Album war “Delia´s gone“, ein düsterer Song, der von einem Mann erzählt, der sein treuloses Mädchen, das er liebt, erschießt. Nachts hört er ihre Schritte. Dieser und weitere Songs auf dem Album sind von Cash selbst geschrieben: „Drive on“, „Redemption“, „Like a soldier“. Andere sind von ebenbürtigen Songwritern, wie Leonard Cohen „Bird on an wire“, Nick Lowe „The beast in me“, Glenn Danzig „Thirteen“. Glenn Danzig war ein junger Heavy Metal Artist, der mit Rubin zusammengearbeitet hatte. „Ich kann den Song nicht singen wie Glenn“, sagte Cash, „aber ich kann es auf meine Weise tun, wie ich das immer tue.“ Rubin sagte: „John machte jeden Song zu seinem eigenen. Er hat eine Fähigkeit, die Musik und die Gefühle aus der Lyrik so persönlich herüberzubringen, wie nur wenige Leute das können. Egal, wer den Song geschrieben hat, wenn Du zuhörst, sind das alles Johnny-Cash-Songs. Sie klingen tief und einsam. John singt wie vom Grund eines tiefen, dunklen Brunnens.“ –
Das Album schlug total ein. Es war eine Sensation. Es bekam eine maximale Presse. Es stand im „Billboard“, dem ersten Branchenblatt, im Mittelpunkt: „Johnny Cash, ein dunkler Troubadour, der in einem bewegten Leben die Grenzen von Schuld und Sühne ausgelotet hat.“ Es bekam die Höchstbewertung im „Rolling Stone“. Es gewann 23 Country-Charts und einen Grammy als bestes zeitgenössisches Folkalbum.
„Das Album kam wie ein kalter Windstoß über die Country-Industrie in Nashville“, schreibt der Cash-Biograph Franz Dobler. - -
Nashville selbst beachtete es nicht; es tat so, als ob Johnny Cash keine Musik mehr machte. Die Country-Sender spielten ihn nicht. Aber im Magazin „Country-Music“ schrieb ein Leser: „Wo waren wir, daß Johnny Cash nach Los Angeles gehen mußte, um einen neuen Plattenvertrag zu bekommen? Von meinem Herzen zu Ihrem Herzen, Rick Rubin, Head of „American Recordings“, danke Sir, daß Sie die Sünde von denen in Nashville gutgemacht haben, die den großen Johnny Cash zum Schweigen brachten.“
In den achtziger Jahren hatte Columbia und auch Mercury kein Interesse mehr an Cash gehabt. Sie behandelten ihn mit Gleichgültigkeit. Rick Rubin sagte: „Cash war in Nashville zuletzt von Leuten umgeben, die seine Kreativität nicht mehr ernst nahmen. Das hat sich auf seine Arbeit ausgewirkt. Er hat nicht mehr die Musik gemacht wie früher.“ Er habe nur ein würdiges Umfeld gebraucht. Für Rubin war Cash immer noch eine große, geheimnisvolle Gestalt, die nirgends richtig hineinpaßte – der Inbegriff des Außenseiters (the natural outlaw). Nashville spuckte nur noch „sugar-coatet clowns“ aus, für Leute, die Spaß haben wollten. Da war für einen intensiven, dunklen, trotzigen Sänger kein Platz mehr. Columbia ließ ihn Mitte der achtziger Jahre als „todgerittenes Pferd“ fallen. Cash sagte: „Ich war auf der tiefsten Stufe der Zeiten meines künstlerischen Weges angelangt. Ich war ganz unten und glaubte nicht, daß es noch einmal aufwärts geht. Aber als Rick kam, fingen die Dinge an, sich zu ereignen (When Rick came along things started happening).